Komplexität

Komplexität kontern

Steht ein Produktteam vor einem größeren neuem Vorhaben, so muss es sich schnell in einem Gewimmel von unzähligen Ideen, Systemen, Stakeholdern, Anforderungen und Technologien zurechtfinden. Was kann dabei schiefgehen? Es passiert leicht, dass das Team sich von der gewaltigen Komplexität erschlagen lässt und nichts vorangeht. Ich stelle hier Vorgehensweise und Methoden vor, die Komplexität kontern zu können.

Nach diesen vier Prinzipien gehe ich dabei vor:

  • Für welche Zielgruppe lösen wir Probleme bzw. welches Bedürfnis welcher Zielgruppe adressieren wir?
  • Welche Ziele verfolgen dieses Vorhaben?
  • Was soll das Vorhaben umfassen, was liefert es?
  • Und zuletzt: Wie kann das Vorhaben schnell starten?

Das Vorgehen zieht sich kompakt über 2-4 Wochen. Das kann für einige Organisationen echt sportlich sein, fördert aber schnelle Generierung von Erkenntnissen und Durchführung von konkreten Experimenten. Je schneller sich ein Team weg von Planung und Überlegung bewegt, desto besser. Treiber des Vorgehens sind in der Regel Product Owner oder Projektleiter. Teilnehmer sind darüber hinaus relevante Stakeholder/Nutzer und natürlich das gesamten Team (oder Teile davon). Folgende Tätigkeiten wähle ich üblicherweise bei der Vorgehensweise:

1. Stakeholder identifizieren und einordnen

Zuallererst lohnt es sich, alle Stakeholder zu identifizieren und diese zu klassifizieren. In allen Nachfolgeschritten werden nur die relevanten Stakeholder eingebunden. Und diese Gruppe sollte so klein wie nur irgendwie möglich sein. Alle weiteren Schritte im Vorhaben sind eher zu meistern, wenn nicht jeder Stakeholder mitredet und mitbestimmt. Zu groß ist das Risiko, dass Ziele und Inhalte verwässert werden, wenn die Anzahl der Stakeholder zu groß ist. Hier heißt es, konsequent zu sieben, was meist unangenehm ist. Dafür bietet sich die Power-Interest-Matrix an, die Roman Pichler hier vorstellt.

Power-Interest Matrix

Siehe dazu auch dieser Beitrag von mir.

Um die Stakeholder – Auftraggeber, Nutzer etc. – zu sieben, werden sie anhand vier Kategorien aufgeteilt:

  • Player –  z.B. verantwortliche Produktmanager, Auftraggeber und Manager aus Fachabteilungen mit denen das Team eng zusammenarbeitet.
  • Subjects – z.B. interessierte Produktmanager und abhängige Produktteams, die die Marschrichtung des Teams nicht spürbar beeinflussen, deren Feedback oder Beratung jedoch wichtig ist.
  • Context Setters – z.B. mittleres und höheres Management. Nehmen nicht an der Produktentwicklung teil, schaffen jedoch organisatorische Rahmenbedingungen.
  • Crowd –  Alle anderen, die über das Produkt informiert werden, jedoch keinen Einfluss auf Produktentwicklung haben.

Üblicherweise fallen viele Stakeholder in die “Crowd” – diese wird zukünftig nur noch informiert. Die Player werden in Konzeption, Planung und Priorisierung eingebunden, Subjects in Tests und Interviews.

Hört sich sehr einfach an, ist es in der Praxis natürlich nicht. Insbesondere in Organisationen, die an “Jeder muss bei allem mitreden” gewöhnt sind. Aber auch hier hilft es, die Player frühzeitig zu identifizieren. Sie helfen dem Team als erster Ansprechpartner und sind Proxy für ihre jeweilige Organisation.

2. Auftrag klären und Ausrichtung geben

Zu Beginn eines Vorhabens steht immer eine Idee oder ein Auftrag – ausgehend vom Team oder von außerhalb. Um einen ersten Navigationspunkt zu setzen, empfehle ich daher den Auftrag zu klären. Welches Problem soll eigentlich gelöst werden? Warum? Und welche messbaren Ziele verfolgen wir? Erst durch diese Klärung entsteht eine klare Ausrichtung, an der sich Team und Stakeholder orientieren. Ohne messbare Ziele und ohne Klarheit über den Problemraum startet ein Vorhaben schnell schwammig und orientierungslos. Ein gutes Werkzeug zur Auftragsklärung ist der gleichnamige Steckbrief von Xing.

Auftragsklaerung

Der Steckbrief verfügt über sieben Felder.

  • Situation – Was ist die Ausgangssitutation des Vorhabens?
  • Complication – Was ist der Auslöser des Vorhabens?
  • Higher Intent – Wie zahlt das Vorhaben auf die Vision (Team-, Produkt- oder Unternehmensvision)?
  • Intent – Was wollen sie mit dem Vorhaben wirklich erreichen?
  • Boundaries – Was darf nicht passieren? Was nicht Teil des Vorhabens?
  • Hypotheses – Welche Annahmen zum Mehrwert des Vorhabens machen sie?
  • Input – Welche Rollen/Skills benötigen wir? Wie sieht der finanzielle Rahmen aus?
  • Output – Was bekommen die Kunden zu sehen? Timings?
  • Outcome – Woran messen wir den Erfolg des Vorhabens?

Ich empfehle, pro Feld maximal vier, besser nur zwei präzise formulierte Punkte zu verfassen. Besser ausgedrückt, ist die fertige Auftragsklärung schnell verständlich und eingängig. So eine Auftragsklärung nehme ich in kurzen Workshops (2-3 Stunden) vor. Teilnehmer einer Auftragsklärung sind PO, mindestens Teile des umsetzenden Teams und die relevanten Stakeholder.  Zu jedem Feld sollte es aber kurze Analysen im Vorfelde geben. Besonders zu “Complication“, “Hypotheses und “Outcome“. Hier gilt es noch nicht, alles bis ins kleinste Detail zu durchleuchten, aber schon früh sich darüber einig zu sein, was als wichtigstes Problem angesehen wird, welche Ideen/Hypothesen es gibt, diesen zu lösen und wie die Lösung grob aussehen könnte. So holen wir alle Beteiligten früh ins Boot.

3. Lösungen entwerfen

Okay, nachdem wir das Vorhaben umrissen haben, durchleuchten wir den Problemraum weiter und entwerfen wir die erste Lösung. Das lässt sich am besten mit einer Product Discovery umsetzen. Die Product Discovery lässt PO, Team und Stakeholder das neue Produkt entdecken. Welches Problem löst das neue Produkt? Wie macht es das? Wie sieht es aus? Die Discovery läuft über einen Sprint (wieder sehr sportlich, fördert aber Ergebnisorientierung), das Ergebnis sind Artefakte wie ein Produkt-Steckbrief, Scribbles von der User-Journey und am besten auch ein erster Prototyp. Eingangsdaten sind wiederum Kundenfeedback, Daten (z.B. Tracking, Transaktionen etc.) usw. alles was man kriegen kann, um den Problemraum besser zu durchdringen und um erste Anregungen für neue Ideen zu haben.

Wichtig ist, hier offen und breit zu denken. Es geht darum, möglichst viele Lösungsoptionen zu generieren und deren Hypothesen prototypisch zu beweisen oder zu widerlegen. Lange Diskussionen oder persönliche Befindlichkeiten bringen niemand weiter. Was zählt ist Feedback vom Kunden und das wollen wir hier schnell einholen.

Der Ablauf einer Product Discovery ähnelt dem Design Thinking. Infolgedessen läuft sie so ab:

  1. Den User verstehen (viele Daten heranziehen, Erkenntnisse daraus ziehen)
  2. Das Problem verstehen (verdichten – welche Probleme sind besonders schwerwiegend?)
  3. Lösungsoptionen entwerfen (aufspannen – möglichst viele Ideen generieren)
  4. Einschränken (verdichten – auf die vielversprechendsten Ideen beschränken)
  5. Validieren (ausprobieren, Hypothesen testen, Feedback einholen)
Der grobe Ablauf einer Product Discovery

Eine hervorragende Sammlung von Methoden für Product Discoveries findet sich im Product Discovery Activity Guide der New York Times. Der einwöchige Google Design Sprint ist ebenfalls ein exzellentes Vorgehen hierfür.

Am Ende der Discovery muss klar sein, welches Problem gelöst werden soll. Warum ist es das wichtigste Problem? Für welche Zielgruppe wird das Problem gelöst? Das gleiche gilt für das Produkt: Was liefert das Produkt? Wie sieht es für die Zielgruppe aus? Welche Geschäftsziele verfolgt oder unterstützt das Produkt? Sind all diese Fragen beantwortet und strukturiert erfasst (Steckbriefe, Steckbriefe, Steckbriefe!), so ist eine starke Ausrichtung für das Vorhaben geschaffen. Die Leitplanken sind gesetzt, in dem sich die Umsetzung zukünftig bewegt.

4. Das Vorhaben strukturieren

Sind die Leitplanken gesetzt, können Product Owner und Team sich einen Überblick über notwendige Features/Stories und Umfang des gesamten Vorhabens verschaffen. Dazu empfiehlt sich eine Story Map. Das Vorhaben wird zunächst nach potentiellen Vorgängen (z.B. “Bezahlung”, “Produktsuche”) unterteilt. Die Vorgänge werden nach ihrer in der Praxis vermuteten zeitlichen Reihenfolge sortiert.

Zu jedem Vorgang sammeln PO und Team nun die notwendigen Features/Stories.

Nun haben wir einen sehr guten Überblick über die Stories unseres Vorhabens, nur sind nicht alle gleichermaßen wichtig. Daher wird die Map nach Releases aufgeteilt. Stories können verschoben werden, so dass sie für ein bestimmtes Release geplant werden. Im Zuge dieser Planung gibt es auch immer wieder Stories die einfach unwichtig sind und gestrichen werden können.

Im Laufe der Umsetzung sammelt ein Team kontinuierlich Erkenntnisse, die neue Features hervorbringen oder bestehende überflüssig werden lasse. Daher ist eine einmal erstelle Story Map auch nicht beständig und erfüllt ihren Zweck für mich vor allem in den ersten Wochen eines Vorhabens. Üblicherweise lasse ich nach den ersten Sprints die Features des Vorhabens in die Roadmap (die aber auch – je nach Geschmack – eine kontinuierlich gepflegte Story Map sein kann) einfließen. Nur Stories für die nächsten 2-3 Sprints liegen ausformuliert im Backlog.

Gute Artikel zum User-Story-Mapping finden sich hier und hier.

5. Schnell anfangen, schnell scheitern

Nach Erstellung der ersten User-Story-Map, kann die Umsetzung grundsätzlich beginnen.

Eine gute Methode, um einen ersten Prototyp zu erstellen, ist das Walking Skeleton. Das Walking Skeleton ist ein möglichst schnell errichteter Prototyp eines Vorhabens. Daten fließen vom Anfang bis zum Ende und berühren alle beteiligten Systeme. Dabei kommt es nicht auf Vollständigkeit, Stabilität, Eleganz oder Performance an. Das Walking Skeleton macht möglichst früh transparent , wo große technische Risiken (üblicherweise: Infrastruktur und unbekannte Technologien) schlummern und wie sie sich in der Praxis bemerkbar machen. So erhält das Team früh ein Gefühl dafür, wie es damit umgehen will. Lassen sich einzelne große Risiken isoliert betrachten, empfiehlt sich eher ein Spike. Diese Methode lässt sich während der gesamten Umsetzung immer wieder einsetzen.

Bild von https://codeclimate.com/blog/kickstart-your-next-project-with-a-walking-skeleton/

Ein potentielles Ergebnis dieses risikobasierten Vorgehens kann auch sein, dass sich das Vorhaben nicht umsetzen lässt. Aber so wird es früh transparent und eben nicht erst zum Ende.

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