Agile Leadership – Wo bleiben die Führungskräfte?
Führt eine Organisation Agilität ein, so beginnt sie häufig mit einem ausgewählten Team. Das ist sinnvoll, wenn die ganze Organisation nicht mit einem Big Bang transformiert wird.
Doch was passiert, wenn das besagte Team anfangen will, agil zu arbeiten? Zunächst hilft es, wenn das Team cross-funktional aufgestellt wird. Das Team verfügt über alle Fähigkeiten, sein Produkt mit möglichst wenig spürbaren externen Abhängigkeiten umzusetzen. Beispielsweise kann ein cross-funktionales Entwicklungsteam sein Produkt entwickeln, testen, produktiv stellen und betreiben. Und es organisiert sich dabei selbst, so dass Umsetzung, Zusammenarbeit und Vorgehensweise selber bestimmt werden. Zweck und Sinn des Produkts sind klar herausgearbeitet. Der Fokus des Teams liegt darauf, kontinuierlich wertvolle Produktinkremente zu liefern und nah am Kunden zu sein.
Erste Hürde: Alte Organisationsstruktur
Das erste was Teams in der Transition zur Cross-Funktionalität und Selbstorganisation im Wege steht sind alte Organisationsstrukturen. Und ist das agile Team mit Spaß und Selbstbewusstsein unterwegs, stellt es auf einmal diese alten Strukturen infrage und lässt diese (hoffentlich) bröckeln. Aber wie kommt es dazu? In einer hierarchischen Organisation gibt es funktionale Teams (Entwickler, Projektleiter, Tester etc.). Ein cross-funktionales Team setzt sich aus Mitgliedern der funktionalen Teams zusammen – die Hierarchie bleibt aber bestehen. Die Mitarbeiter des cross-funktionalen Teams, die sich eigentlich auf das eine Produkt ausrichten möchten, berichten weiterhin ihren ursprünglichen Abteilungsleiter. Das heißt, dass das Team weiterhin im Einflussbereich von mehreren Abteilungsleitern steht. Das führt zu Konflikten, wenn jeder Abteilungsleiter seine Abteilungsinteressen weiterhin in dem Team verfolgt und verhindert, dass das Team seinen Job gut macht.
Erste Hilfe: Abbau von Organisationsstruktur
Nach der Einführung von Agilität auf Teamebene, ist der nächste Schritt also die Veränderung der Organisationsstruktur. Genauer gesagt, der Abbau. Eine Matrix-Organisation hilft aus meiner Sicht erstmal wenig. Sie ist nur ein Versuch, die alte Struktur zu retten. Die Matrixorganisation hat ihren Fokus eher darauf, die Auslastung zu optimieren. So fördert sie auch weiterhin Abteilungsinteressen und weniger die Leistungsfähigkeit von Produktteams. Was hierarchische Organisationen hervorgebracht haben, sind Misstrauen, Kontrolle, Intransparenz und Distanz.
Der Abbau von alten Strukturen bedeutet, dass jedes Produktteam zu einer abgeschlossenen Organisationseinheit wird. Doch was für einen Schritt muss die Organisation hierfür gehen? Keinen kleinen, soviel ist klar. Denn es findet ein Wechsel weg von Misstrauen, Kontrolle, Intransparenz und Distanz (die alte Industriekultur) statt. Weniger Führungskräfte als vorher sind für ein Produktteam verantwortlich. Verantwortlich in dem Sinne, dass sie alles tun, damit Teams gut arbeiten. Weniger Führungskräfte bedeutet auch Aufbau des Vertrauens, Förderung der Verantwortung (für erste Schritte empfehle ich Delegation Poker) – bei gleichzeitiger Erhöhung der Transparenz (woran arbeitet ein Team? Warum? Ist das Team erfolgreich?).
Das alles umfasst die beiden Prinzipien von Agile Leadership: Servant Leadership und Alignment.
Servant Leadership – Alles tun, damit Teams gut arbeiten
Mit diesem neuen Begriff tun sich viele Leute schwer. Mit Servant – Diener – verbinden Führungskräfte Machtverlust und Unterwürfigkeit. Aber es beschreibt sehr gut die neue Rolle der Führungskraft. Diese sorgt zukünftig dafür, dass das Team seine Arbeit gut machen kann. Dazu gehört, dass dem Team Hindernisse aus dem Weg geräumt werden. Ein Beispiel dafür sind die eingangs erwähnten alten Organisationsstrukturen. Hier wird auch klar, was der Unterschied zum ScrumMaster ist, der auf Teamebene ebenfalls Hindernisse beseitigt. Der agile Leader ist Führungskraft und hat das Mandat, dem Team innerhalb der Gesamtorganisation den Weg zu bahnen. Weitere Beispiele sind die Neuorientierung von Verträgen mit Dienstleistern und Zulieferern.
Als Führungskraft hat der agile Leader die Aufgabe, die passenden Rahmenbedingungen für das Team zu schaffen. Ein typisches Beispiel hierfür ist die Schaffung eines Recruiting-Prozesses, der so gut wie möglich auf das Team zugeschnitten ist.
Alignment – Ausrichtung geben
Jedes Produktteam möchte seine Produkte erfolgreich sehen. Doch was ist eigentlich Erfolg? Und wie weit ist das Team vom Erfolg entfernt? Hier kommt die zweite wichtige Eigenschaft des agile Leaders ins Spiel: Alignment. Die Führungskraft gibt nicht mehr vor, was zu tun ist. Sie definiert für ein oder mehrere Produktteams Ziele und Metriken, um die Zielerreichung zu messen.
Gemessen wird kontinuierlich, damit alle wissen, wie weit die Zielerreichung noch entfernt ist. Die Artefakte einer Führungskraft sind hier Vision, Roadmap und Strategie. Je klarer und je messbarer diese Artefakte sind, desto eher ermöglichen sie dem Team Ausrichtung für dessen Arbeit. Eine klare Ausrichtung ist die Grundlage für Priorisierung von Themen und die Auswahl von Features (was ist wichtig, was nicht? was ist Pflicht, was ist Kür?).
Das Produktteam plant basierend auf der Ausrichtung des agile Leaders seine Produktvision, seine Produktroadmap und sein priorisiertes Backlog. Die Führungskraft führt hier durch konsequente Ausrichtung.
Verschwinden nun die meisten Führungskräfte?
Agile Führungskräfte fokussieren sich auf Servant Leadership und Alignment. Um diese beiden Eigenschaften auszufüllen, rückt die Führung wieder in den Vordergrund. Es kommt bei einem agile Leader weniger darauf an, dass er nach jahrelanger guter fachlicher Arbeit befördert wird. Vielmehr kommt es darauf an, dass ein agile Leader gute Führungseigenschaften mit sich bringt. Sind sie Führungskraft? Überlegen sie sich doch mal für sich selbst: Wie viel beschäftigen sie sich mit Management, wie viel mit Führung (siehe auch dieser Artikel dazu)?
Um auf die obige Frage zu antworten: Jein. Die meisten Führungskräfte verschwinden nicht. Sie richten sich vor allem neu aus, aber das wird sicherlich nicht jedem liegen. Schließlich geht es weg von steiler Hierarchie, hin zur Arbeit auf Augenhöhe. Ob einzelne Führungspositionen wirklich wegfallen, hängt stark von der Komplexität der Führungsstrukturen im Unternehmen ab. Je komplexer und je mehr Führungskräfte, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass für gut selbstorganisierte und ausgerichtete Teams weniger Führungskräfte benötigt werden.
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